BLINDGÄNGE - Gerd Mevissen
Der Bildraum Blindgänge ist eine Installation mit Papierarbeiten und
Tastreliefs aus Beton, die seit einigen Jahren Themenkreis für Themenkreis
weiterwächst. Als Wanderausstellung in den variablen Zusammenstellungen
war der Bildraum Blindgänge schon an den verschiedensten Orten zu sehen bzw.
zu ertasten: u. a. Hilton Hotel Weimar, Schloß Haunscher Hof Bad Salzungen,
Kreismuseum Heinsberg (siehe Foto),

Amtsgericht Jülich, Kulturverein Neunkirchen/Saar,
Lehmbruck Museum Duisburg. Im Herbst 2004 wird sie in St. Rochus Köln-Bickendorf erstmals in einem Kirchenraum zu sehen sein.
Der ersten Themenkreis Blindgang Puerta del Sol Madrid Platz der blinden
Losverkäufer ist das Herzstück der Installation.

Im Winter 1978/79 habe ich als Student ein halbes Jahr in Madrid gelebt. Mir
sind besonders eindrücklich die vielen blinden Losverkäufer und
Rosenverkäufer von der Puerta del Sol in Erinnerung geblieben. Ich erlebte
die nicht-sehenden Menschen - inmitten des lärmigen, Menschen überfüllten
Stadtzentrums - einerseits erfreulich selbstverständlich präsent im Puls des
Stadtlebens und andererseits ihm ausgeliefert.

In den Bildern der Installation Bildraum Blindgänge habe ich versucht, meine
Erfahrungen mit dem Thema Blindheit und Großstadt zu bündeln und sichtbar zu
machen. Mein künstlerischer Beitrag im Rahmen von "Blindheit und Kunst"
fußt auf Gesprächen mit nicht-sehenden Menschen über ihre Wegeerfahrungen in
der Stadt, die ich dann immer wieder in Beziehung zu meinen eigenen Beobachtungen gesetzt habe. Es ist mir wichtig, dass einerseits der
nicht-sehende Mensch etwas von seiner Lebenswirklichkeit in meinen Arbeiten
wiederfindet und der sehende Mensch etwas über den Alltag der Blindheit
erfährt. Anderseits soll der Sehende Aspekte der Blindheit aus meinen
Bildern auf sein Leben übertragen können, während der Nicht-Sehende etwas
von der Sehweise der Sehenden erfährt.

Die Bilder sind erzeugt durch eine plastische Druckplatte, die ich - in
grauen Beton gegossen - als Tisch in das Installationshaus gestellt habe. So
können die sehenden Betrachter schauen, lesen und tasten zugleich. Für die
nicht-sehenden Betrachter bleiben die geschriebenen Worte, die Tastreliefs
und die Worte, mit denen die Sehenden ihnen die Bilder erzählen können.
Gerade das vermittelnde Erzählen der sehenden für die nicht-sehenden
Menschen ist mein kommunikatives Kernanliegen, da so die lebendige Brücke
von Mensch zu Mensch gestiftet wird, die den Nicht-Sehenden eine
Außenansicht zu ihrer Behinderung eröffnet.
Der zweite Themenkreis Blindgang Mauer Berlin/Brandenburger Tor
Stadtverlust/Wunde Teilung beschäftigt sich mit der Mauergeschichte Berlins
als Wunde und als Schnitt durch das soziale Gefüge, als Stadtverlust, als
brüchig werdende Erinnerung dessen, was man lange nicht mehr gesehen hat
oder nie wieder mit eigenen Augen betrachten kann. So behandelt diese Arbeit
auch die vielfältigen Trennungsprozesse und die einschneidenden Verluste,
die eine Behinderung für die Betroffenen nach sich zieht.
Die plastische Druckplatte ist in der ehemaligen Mauerführung der DDR
zerlegt, getrennt gegossen und auf zwei separate Stelen montiert. So kann
man den Ost- und den Westteil der Stadt nach Belieben in Nähe und Distanz
setzen.
Der dritte Themenkreis Blindgang Topographie des Terrors Berlin Zentrale
der Vernichtung unwerten Lebens zentriert auf die heute wieder ausgegrabenen
Fundamente der ehemaligen SS-Zentrale in Berlin, von der aus die Vernichtung
der unerwünschten Menschen und Volksgruppen am Schreibtisch erfunden und
gesteuert wurde. Beide Berlin-Themen möchten vor allem den nicht-sehenden
Menschen konkret begreifbare Stadt- und Landesgeschichte nahe bringen.
Als weitere, kleinere Themen des Bildraum Blindgänge sind zu erwähnen:
Blindgang Frühlingserwachen und Blindgang Strafgerichtssaal.
Während der Ausstellungsprojekte und auch in meinem Atelier habe ich
ergreifende Erfahrungen sowohl mit Nicht-Sehenden wie mit Sehenden in großer
Vielfalt machen dürfen. Für die Nicht-Sehenden scheint es zunächst ein
Prozess der Annahme zu sein, dass ihnen bildnerische Arbeiten zur geistigen
Auseinandersetzung zur Verfügung stehen. Den meisten fällt der Überstieg vom
zweckgerichteten Tasten zur freien Wahrnehmung nicht leicht. Gelingt dies
dennoch, geschehen oft wundersame Begegnungen. Das Interesse der Sehenden
zeigt sich oft überbordend groß. Viele Geschichten aus dem Alltag werden
ausgetauscht, viel Betroffenheit ausgelotet.
In der Rochuskirche in Köln-Bickendorf kann der Bildraum Blindgänge erstmals
mit der Kirchenmusik, der Liturgie, der biblischen Dimension von Blindheit
und dem Kirchenraum wechselwirken.
* Der Autor ist feischaffender Künstler und wurde 2001 mit dem
Kunstförderpreis des Deutschen Blindenhilfswerks ausgezeichnet.
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